Die Einführung von Redispatch 2.0 und dessen Implikationen für KRITIS-Betreiber
Die Einführung von Redispatch 2.0 und dessen Implikationen für KRITIS-Betreiber
Dieser Artikel ist Teil der Reihe „Inside KRITIS: Wichtige Veränderungen für Betreiber kritischer Infrastrukturen in 2023“, die sich an Betreiber kritischer Infrastrukturen richtet und zum Ziel hat, wichtige Veränderungen sowohl vorzustellen als auch deren Implikationen hinsichtlich ihrer Ausmaße einzuordnen. Der Fokus in diesem Artikel liegt auf Redispatch 2.0, während sich der erste Teil der Reihe mit den Neuerungen des Sicherheitsgesetzes 2.0 beschäftigt.
Da mit Redispatch 2.0 wichtige neue Anforderungen an die Vernetzung kritischer Systeme gestellt werden, die die Nutzung digitaler Technologien erfordern, müssen diese Veränderungen auch durch die Netzwerkarchitekturen kritischer Infrastrukturbetreiber realisierbar sein. Die Fallstudie der SWW Wunsiedel verdeutlicht, wie die Implementierung der mit Redispatch 2.0 verbundenen Maßnahmen erfolgen kann.
Eine Infobox mit den Hintergründen zu Redispatch 2.0 und Connect+ finden Sie am Ende des Artikels.
Umsetzung der Redispatch 2.0-Maßnahmen bei der SWW Wunsiedel
Autor: Rainer Härtl (SWW Wunsiedel)
Der 01.
Oktober 2021 stellte in der Energiewirtschaft Deutschlands einen besonderen
Stichtag dar. Dieses Datum symbolisiert einen weiteren Schritt hin zu einer
erfolgreichen Energiewende und letztendlich der kontinuierlichen Gewährleistung
unserer Versorgungssicherheit. Die Rede ist von der Einführung von Redispatch
2.0.
Die Anforderungen dazu erschienen zunächst simpel. Im
Redispatch 1.0-Regime sind die vier Übertragungsnetzbetreiber (ÜNB) in
Deutschland verpflichtet, konventionelle Kraftwerke ab einer elektrischen
Leistung von 10 MW in ihrer Einspeiseleistung bzw. Kraftwerkseinsatzplanung
(dem Dispatch) zu verändern (dem Redispatch), um damit Netzengpässen
vorzubeugen oder sie zu entschärfen. Bei Redispatch 2.0 erweitert sich dieses
Vorgehen auf konventionelle Kraftwerke sowie Erneuerbare-Energien-Anlagen und
Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen ab einer elektrischen Leistung von 100 kW samt
steuerbarer Anlagen <100 kW. Der große Unterschied ist, dass diese
„Anlagenerweiterung“ nun in den Verantwortungsbereich der 865
Verteilnetzbetreiber (VNB) übergeht. Resultierend daraus stehen VNB wie die SWW
Wunsiedel GmbH vor der Aufgabe, den neuen Anforderungen mit individuellen und
neuen Prozessen gerecht zu werden.
Aus Sicht der SWW ergeben sich dafür zwei unterschiedliche
Aufgabenfelder: die Rolle des Anlagenbetreibers sowie die des
Verteilnetzbetreibers. Erstere ergibt sich aus der Existenz eigener oder
direktvermarkteter Erzeugungsanlagen, welche in die Redispatch 2.0-Maßnahmen
fallen. Hier muss die SWW sowohl die neu geschaffene Position des
Einsatzverantwortlichen (EIV) als auch teilweise die des Betreibers einer
technischen Ressource (BTR) übernehmen sowie die Anlagen registrieren und
Kommunikationswege einrichten. Damit können Stamm-, Bewegungsdaten und weitere
Informationen standardisiert an die Connect+ Schnittstelle weitergegeben, aber
auch empfangen werden (z.B. Aufforderung zu einem Abruf). Im Gegensatz dazu
sind die Anforderungen an Netzbetreiber umfangreicher und gliedern sich im Wesentlichen
in folgende Punkte auf:
• Erstellung präventiver Netzzustandsanalysen
• Erstellung von Erzeugungsprognosen und Behebung von
Netzengpässen
• Abstimmung mit vorgelagerten VNB/ÜNB (NKK)
• Abstimmung mit Anlagenbetreibern (PVZ)
• Bilanzieller und finanzieller Ausgleich von Redispatch-Maßnahmen
• Berechnung der Ausfallarbeit
• Eröffnung eines neuen Bilanzkreises nur für Redispatch 2.0-Maßnahmen
• Übernahme der Rolle als Data Provider (wird in der Regel an
Connect+ abgegeben)
Die Durchführung dieser Punkte wird unter anderem durch Zusammenarbeit mit verschiedenen Partnern gelöst und basiert auf einem neu erstellten Konzept. Grundsätzlich lassen sich die resultierenden Use Cases für die SWW wieder in zwei Teilprozesse aufteilen, beginnend mit der rollierenden Versendung von Daten an die Connect+ Schnittstelle.
Initiiert wird der Prozess durch die Erhebung der
anlagenspezifischen Bewegungsdaten von allen betroffenen Erzeugern. Die meisten
davon befinden sich im Prognosemodell, weswegen keine Planungsdaten gesendet
werden. Auf Basis von 15 Minuten Zeitreihen wird daraufhin die im Prognosemodell
erforderliche Erzeugungsprognose und zusätzlich eine Wirksamkeitsanalyse
erstellt. Die Erzeugungsprognose versucht viertelstundenscharf das
Einspeiseverhalten der Anlagen vorherzusagen, bis zu 72 Stunden im Voraus. Um
das möglichst exakt zu tun, wurde die verwendete künstliche Intelligenz bereits
vor dem tatsächlichen Einsatz am 01.10.2021 mit stündlichen historischen
Erzeugungsdaten von den Anlagen „angeimpft“ und erlernte dadurch, wie die
Anlagen in der Vergangenheit eingespeist haben. Mithilfe der erlernten
Einspeisemuster, Wetterdaten sowie Stamm- und Bewegungsdaten kann schließlich
eine viertelstundenscharfe Erzeugungsprognose erstellt werden. Da vom
Gesetzgeber nur eine Prognose von 36 Stunden im Voraus gefordert wird und die KI
das um den Faktor zwei übertrifft, können die „restlichen“ 36 Stunden als
Backup-Prognose fungieren.
Die Wirksamkeitsanalyse ist als weiteres Element zu nennen.
In diesem Zusammenhang errechnet die Software, welche Auswirkung das Abschalten
einer Anlage auf einen Netzengpass im Netz der SWW hat. Mit anderen Worten
erstellt das System eine Art Merit-Order und prüft die Sensitivität von der
anlagenspezifischen Einspeisung auf den Engpass. Im Falle der SWW gibt es netzintern
noch keine Engpässe, weshalb die einzig mögliche Überlastung des Netzes an den
Grenzkuppeln zur 110 kV- und 20 kV-Leitung des Bayernwerks auftreten kann sowie
allgemein im nachgelagerten Netz. Laut Berechnungen besteht Engpasspotenzial im
Netz der SWW nur am Umspannwerk zu einer 110 kV-Leitung. Hierzu haben alle vom
Redispatch 2.0 betroffenen Anlagen eine gleich hohe Wirkung von „1“ auf einen
dortigen Netzengpass. Das bedeutet, dass sich physikalisch gesehen alle Anlagen
gleich gut eignen, um diesen Engpass zu lösen. Aus genannten Gründen ist die
Wirkanalyse zum jetzigen Kenntnisstand vorerst nachrangig.
Auf Grundlage der Bewegungsdaten der Redispatch 2.0-Anlagen
wird außerdem die Netzzustandsanalyse erstellt, 15 Minuten Zeitreihen gebildet
und Flexibilitäten errechnet. Die Netzzustandsanalyse kann im Rahmen des
Redispatch 2.0-Prozesses als Schlüsselereignis betrachtet werden, denn hier
werden unter Einbezug der vorher durchgeführten Erzeugungsprognosen und
Lastprognose auftretende Netzengpässe bis zu 36 Stunden vor eigentlichem
Eintritt erkannt. Zusätzlich werden die von den Anlagen gesendeten
Einspeiseleistungen in 15 Minuten Zeitreihen zusammengefasst und ermöglichen
damit die eben beschriebenen Erzeugungsprognosen. Die Zeitreihen werden nach
Weiterleitung gespeichert und erlauben es, die Echtzeit-Erzeugungsleistung
einzusehen. Angenommen, es wird ein Netzengpass erkannt, stellt eine
Flexibilitätsanalyse fest, welche Anlagen für eine Redispatch-Maßnahme
verfügbar sind und welche Nichtverfügbarkeiten oder marktbedingte
Fahrplananpassungen angemeldet wurden oder bereits von Redispatch-Maßnahmen
anderer Netzbetreiber betroffen sind. Außerdem wird ermittelt, welche Anlagen
die angeforderte Wirkleistungsreduzierung technisch überhaupt umsetzen können.
Alle bisherigen Berechnungen und Simulationen sind ohne
Anbindung an die Connect+ Schnittstelle getätigt worden, die das Ziel der
erhobenen Daten sind. Dementsprechend werden die Daten erst intern hinterlegt, in
ein nicht proprietäres Format übertragen und im letzten Schritt an die Connect+
Schnittstelle gesendet. Der gesamte Prozess ist im nächsten Diagramm
dargestellt. Anzumerken ist, dass die Erzeugungsprognose auf den vorher
gebildeten 15 min Zeitreihen aufbaut und mit ihren Ergebnissen wiederum die
Netzzustandsanalyse speist, wodurch sich beide Prozesse beeinflussen.
In der zweiten Prozessreihenfolge dreht sich der Austausch von Informationen um. Dabei kommt eine Anfrage von Connect+, auf die die SWW reagieren muss. Die dringlichste Anfrage, die kommen kann, ist eine Anweisung eines vorgelagerten Netzbetreibers, eine netzeigene Erzeugungsanlage der SWW einer Redispatch-Maßnahme zu unterziehen. Der sogenannte „Abruf“. Hierbei ist die SWW gezwungen zu reagieren und muss einige Schritte einleiten, bis es zur eigentlichen Wirkleistungsanpassung kommt. SWW-seitig wird der Abruf an der Schnittstelle mit Connect+ empfangen, bestätigt und intern weitergegeben. Danach folgt der normale Redispatch 2.0-Ablauf. Aus der Praxis gibt es hierzu leider noch keine Erfahrungswerte. Das beruht auf der Tatsache, dass die SWW im eigenen Netz keinen Bedarf an Redispatch 2.0-Abrufen hat. Auch von vorgelagerten Netzbetreibern kam bis Anfang 2023 keine Anweisung zum Abruf.
Die größte Herausforderung bei der Umsetzung von Redispatch 2.0 war es, alle gesetzlichen Anforderungen zu erfassen, zu verstehen und anschließend in einen völlig neuen Prozess zu übersetzen, bei dem jeder beteiligte Partner seinen Beitrag leistet. Obwohl der Gesetzgeber, bzw. offizielle Stellen, laufend Umsetzungshilfen veröffentlichten, blieben einige Detailfragen innerhalb der komplexen Abläufe unklar. Am wichtigsten und ressourcenintensivsten jedoch war es, die Prozesse im oben aufgeführten Diagramm zu realisieren, welche das Fundament eines jeden Redispatch 2.0-Abrufs bilden. Bei den umfassenden Anforderungen waren auch einige betroffene Anlagenbetreiber verunsichert, wie mit der neuen Thematik umzugehen ist. In diesem Fall half oft der Kontakt zum Direktvermarkter der Anlage. Schlussendlich ist das individuelle Redispatch 2.0-Konzept der SWW Wunsiedel GmbH erfolgreich. Zukünftig bleibt es spannend, wie sich die Dynamik um Redispatch 2.0 im Zuge der Energiewende weiterentwickelt. Denn es stellt sich nicht die Frage, ob ein Abruf kommt, sondern wann.
Infobox
Redispatch 2.0
Mit Redispatch 2.0 ist es möglich, Netzengpässen im deutschen Stromnetz präventiv entgegenzuwirken. Solche Engpässe entstehen unter anderem durch immer mehr volatile Stromerzeugung, z.B. von Photovoltaik- und Windkraftanlagen, aber auch durch fehlende Kapazitäten in den Netzen. Da diese Erzeugung zusätzlich immer häufiger in den Verteilnetzen geschieht, sind neben den Übertragungsnetzbetreibern nun auch Verteilnetzbetreiber in der Pflicht, eigenständig Stromerzeugungsanlagen zum Schutz der Netze in ihrer Wirkleistungseinspeisung anzupassen.
Connect+
Connect+ ist ein IT-System, das allen Akteuren in Redispatch 2.0, wie Netz- und Anlagenbetreibern, eine Plattform zur Verfügung stellt, über die mit einheitlichen Datenformaten kommuniziert werden kann.